12 Buchgeflüster

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»Ich könnte die Liste ewig fortsetzen, doch mit Verlaub, Sir, ich würde es vorziehen, wenn wir die Unterhaltung beenden und unserer Wege gehen.«

»Warum?«

»Ich fürchte, die Diskussion führt ins Leere. Sie frisst unnötig Zeit und davon habe ich bekanntlich viel weniger zur Verfügung als Sie, Sir.«

Samael Kingsley verschränkte die Arme und kam ein paar Schritte auf sie zu. »Du hältst dieses Gespräche also für Zeitverschwendung?«

Orla realisierte zu spät, welches Minenfeld sie gerade betreten hatte. 

»Ist deine Zeit kostbarer als meine?«, fragte er.

»So hatte ich das nicht gemeint, Sir.« Diesmal war sie von niemandem über die rote Linie geschubst worden, sondern ganz alleine auf die dunkle Seite getanzt.

»Sag schon.« Nichts an seinem Ausdruck deutete darauf hin, dass er verärgert war. Sein Lächeln schien eher wie eine Einladung. 

Dennoch blieb Orla vorsichtig. »Ich habe mich lediglich auf meine Pflichten als Hausmädchen bezogen, Sir. Meine Runde …«

»Deine Runde kann warten.« Er spazierte scheinbar gleichgültig Richtung Regal zurück. »Erst klären wir das hier.« Als er mit der Hand nach dem zerstörten Victor Hugo griff, verstand Orla die Drohung. »Es ist eine einfache Frage: Ist deine Zeit kostbarer als meine?«

»Vermutlich kommt es auf den Blickwinkel an, Sir«, antwortete sie. 

»Lass den diplomatischen Quatsch. Sei ehrlich!« 

Erst jetzt bemerkte Orla, dass der Dämon sie nicht wiedererkannt hatte. Andernfalls hätte er sie längst auf ihre erste Begegnung angesprochen. Mehr noch, er hätte es todsicher gegen sie verwendet. Für einen Moment wusste sie nicht, ob sie erleichtert oder gekränkt sein sollte. 

»Würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, dass etwas umso kostbarer ist, je weniger man davon hat?«, sagte sie nach sorgsamer Überlegung. »Und jemand, der viel besitzt, sich auch eher erlauben kann, verschwenderisch zu sein?«

Der Dämon ließ Victor und die Elenden dort, wo sie waren, und bedachte Orla mit einem wohlwollenden Nicken. »Das kann man so sehen. Erlaubst du mir trotzdem, dir noch einige wertvolle Minuten von deiner Lebenszeit zu stehlen?«

Natürlich war die Frage rhetorisch gemeint, also sparte sich Orla eine Reaktion darauf.

»Gerade wenn es darum geht, die wenige Zeit, die man hat sinnvoll zu verbringen, stellt sich ja die Frage, warum du eine langweilige Tätigkeit wie das Putzen einem Gespräch mit mir vorziehst.« Der Dämon setzte sich auf die Récamiere unter dem Fenster und lehnte sich zurück. »Wieso denkst du, dass eine Unterhaltung mit mir unweigerlich ins Leere führt?«

»Ob das grundsätzlich so ist, kann ich nicht beurteilen, Sir.«

»Du weichst schon wieder aus«, sagte er. »Je länger du dich vor einer ehrlichen Antwort drückst, umso länger wird dieses Gespräch dauern. Und wer von uns beiden sich das weniger leisten kann, hast du ja gerade erläutert.«

Bei allem Druck, den sie verspürte, wunderte sich Orla, dass der Dämon noch immer die Finger von ihren Gedanken ließ. Keine Kopfschmerzen, kein Verlangen, die Wörter auszuspucken, wie sie ihr gerade in den Sinn kamen. Nach dem Vorfall im Salon war sie ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass er derjenige war, der diese Fähigkeit besaß, nicht seine Begleiterin Cilla. Sie nicht anzuwenden, obwohl es so viel schneller ging, schien seltsam. War das Teil seines Spiels? Zu schauen, wie weit er ohne diesen Zwang kam? 

In dem Fall war es vielleicht ratsam, gleich mit offenen Karten zu spielen, ehe er aus Unzufriedenheit mit ihren Antworten übergriffig wurde und brenzlige Informationen aus ihrem Kopf holte.

»Sie wollen Ehrlichkeit?«, sagte Orla und atmete tief durch. »Darf ich damit anfangen, dass diese Unterhaltung hier für mich nicht in die Kategorie Gespräch fällt? Es fühlt sich eher an wie ein Verhör. Ein Gespräch findet auf Augenhöhe statt und beruht auf ernsthaftem Interesse aneinander.«

»Und du hast kein Interesse?«

»Sir?« Verwirrt sah Orla ihn an.

»An mir.«

Wie schaffte er es nur, ihr jedes Wort im Munde umzudrehen?

»Du hast dich als zugewandt und aufgeschlossen beschrieben«, sagte er. »Wieso gilt das nicht in Bezug auf mich?«

»Weil Sie mir nicht das Gefühl geben, an einem Austausch interessiert zu sein.«

»Was müsste ich tun, damit sich dein Gefühl ändert?«

»Es wäre hilfreich, wenn Sie Ihr Gegenüber nicht mit Drohungen zu einem Gespräch zwingen.«

»Ist notiert. Weiter?«

»Ich finde Unterhaltungen zwecklos, bei denen es einer Seite nur darum geht, ihre Überlegenheit zur Schau zu stellen. Wenn man fortwährend belächelt wird und nichts von dem, was man sagt, daran etwas ändern kann, ist Reden genauso sinnvoll wie in einem Schlauchboot durch die Wüste zu rudern.« 

Ihr Vergleich schien ihn zu amüsieren. »Du siehst dich also als Opfer«, sagte er mit jenem Lächeln auf den Lippen, das sie gerade kritisiert hatte.

»Keineswegs«, antwortete sie. 

»Aber?«

Er tat es schon wieder. Er verdrehte die Dinge, wie sie ihm gerade passten. Als wären ihre Worte Ambigramme, die er nach Belieben auf den Kopf stellen konnte, um ihnen einen anderen Sinn zu geben. 

»Kennen Sie das Kippbild mit dem Hasen und der Ente?« Orla wusste im ersten Moment selbst nicht so recht, wo sie damit hinwollte. »Es ist eine optische Illusion. Man sieht entweder eine Ente oder einen Hasen, aber niemals beides gleichzeitig.«

»Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen.«

»Was ich als Ente bezeichne, ist für Sie ganz klar ein Hase. Wo ich einen Schnabel sehe, sehen Sie Löffel.

»Löffel?«

»Hasenohren.«

»Das ist mit Abstand das verwirrendste Gespräch, das ich jemals geführt habe.« 

»Genau das meine ich«, sagte Orla. Sie spürte, wie die Ungeduld ihr in den Fingerspitzen kribbelte. »Wir reden aneinander vorbei.«

»Ja, ganz offensichtlich.« 

»Nicht nur jetzt gerade in diesem Moment«, sagte Orla. »Sondern grundsätzlich. Wenn wir etwas betrachten, sehen wir nicht dasselbe. Ich sehe Bücher, Sie sehen verpasste Chancen. Ich sehe ein prunkvolles Haus, Sie sehen ein Gefängnis.«

Er schien von dieser Diagnose überrascht. 

»Spannend, was du glaubst, über mich zu wissen«, sagte er betont kühl, doch Orla spürte, dass sie einen Nerv getroffen hatte. »Selbst wenn du Recht hättest, stellt sich die Frage, was uns davon abhält, die Perspektiven zu wechseln.« Er verschränkte die Arme. »Ich dachte, du liebst es, deine Sicht auf die Dinge zu hinterfragen.«

»Das ist richtig, Sir.« 

»Das gilt dann aber anscheinend nur für Bücher.«

Wäre dies eine Szene in einem Buch, hätte Orla es längst genervt beiseitegelegt. Selten war ihr ein so anstrengender Protagonist begegnet. Von den holprigen Dialogen mal ganz zu schweigen. 

»Ich verstehe schon«, sagte er. »Du hältst mich für einen verwöhnten Schnösel, der sich eigentlich nur gerne selbst reden hört.« 

Wie kam er denn auf diese absurde Idee?

»Und weil du dich nur schwer von diesem Bild lösen kannst, glaubst du nicht, dass ich ehrlich an dir interessiert sein könnte.«

Wie sehr sein eigener Blick auf die Menschen von Vorurteilen getrübt war, hatte er mehr als einmal demonstriert. Welch Ironie, ihn nun solche Reden schwingen zu hören – im Glashaus sitzend, die Hände voller Steine. Das Klirren der Scheiben war ohrenbetäubend.

»Hab ich das richtig zusammengefasst?«, sagte er und lehnte sich vor. »Oder kannst du mir hier und jetzt ins Gesicht sehen und mit voller Überzeugung sagen, dass du unvoreingenommen nach Thornwood gekommen bist, dass da keine Schubladen existierten, in die du mich und meine Familie gesteckt hast?«

Orla fühlte sich ertappt. Sein Reichtum, die kriminellen Machenschaften seiner Familie, die Tatsache, dass er ein Dämon war – die Schubladen waren damals schneller aufgesprungen als sie blinzeln konnte. 

Je länger sie nach einer Rechtfertigung suchte, desto zufriedener badete Samael Kingsley in Selbstgefälligkeit. 

»Das ist dann wohl ein Nein«, sagte er.

»Sie waren aber auch nicht besonders überzeugend, als es darum ging, mir das Gegenteil zu beweisen, Sir«, murmelte Orla trotzig.

»Inwiefern? Was genau habe ich getan?«

»Sie haben deutlich gemacht, dass sie mich für armselig halten. Wenn ich mich recht erinnere, waren ihre genauen Worte: bedeutungslos wie ein Staubkorn. Jemanden, der alles tut, um sich von der Trostlosigkeit seiner nichtigen Existenz abzulenken.« 

Es folgte ein Moment der Stille, in dem Samael Kingsley sie genauer musterte. Zu ihrer Verwunderung entdeckte Orla keinerlei Feindseligkeit in seinem Blick. Hinter den zusammengekniffenen Augen schien eher Verwirrung zu stecken. Und dann konnte sie den Groschen regelrecht fallen sehen. 

»Du bist das Taubenmädchen.« Wieder dieser herablassende Ton in seiner Stimme. Er erhob sich von der Récamiere und kam auf sie zu. »Du schuldest mir noch etwas.«

»Wie bitte?« 

»Ich habe dich schließlich vor dem Schürhaken gerettet.«

Wie nannte man jemanden, der erst ein Feuer legte, um dann damit zu prahlen, dass er es in letzter Sekunde gelöscht hatte? Dazu dieses unverschämte Grinsen – als hielt er erneut die Streichhölzer bereit, um weiter zu zündeln.

»Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar«, sagte Orla, schaffte es jedoch nicht, wirklich überzeugend zu klingen. 

»Das hört sich schon wieder nach einem Aber an.«

»Nein, Sir, kein Aber.« 

Wie viel Cilla ihm wohl von dem Nachspiel im Salon erzählt hatte? Es war schwer vorstellbar, dass jemand wie sie so eine Niederlage einfach zugab. Vermutlich hätte sich die Dämonin eher die Zunge abgebissen. Wenn er tatsächlich keine Ahnung hatte, was am Tag darauf vorgefallen war, musste Orla unbedingt dafür sorgen, dass es auch so blieb. »Mir ist die ganze Sache nur äußerst unangenehm. Deshalb wäre ich Ihnen noch viel dankbarer, wenn wir vielleicht einfach so tun könnten, als wäre das alles nie geschehen.«

»Wie du meinst«, sagte er. »Ich persönlich fand deine Ehrlichkeit sehr erfrischend.« 

Ein Kompliment? Aus seinem Mund? 

»Es stand mir dennoch nicht zu, mich so despektierlich zu äußern«, sagte Orla.

»Für ein Zimmermädchen drückst du dich erstaunlich gewählt aus.«

»Vielleicht haben Sie sich bisher einfach zu selten mit Ihren Angestellten unterhalten.«

»Schlagfertig bist du auch.«

»Das muss von den vielen Büchern kommen.«

»Was mich zu dem Gefallen zurückbringt, den du mir schuldest.«

Orla erwischte sich bei einem Lächeln, das sie jedoch sofort zu korrigieren wusste. Schließlich sollte er nicht auf den Gedanken kommen, sie hätte mittlerweile Gefallen an der Unterhaltung gefunden.