12 Buchgeflüster

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»Ich muss gerade quälend viel Zeit totschlagen.« Er legte eine übertriebene Schwere in seine Stimme – als würde die Last der Welt auf seinen Schultern liegen. »Und solange ich hier festsitze und selbst nichts Aufregendes erlebe, bleibt mir wohl nur der traurige Versuch, mich an fremden Abenteuern zu ergötzen.«

Orla schmunzelte und diesmal war es ihr egal, ob er es bemerkte und sich etwas darauf einbildete. »Ich frage mich, was so schlimm an dieser Welt ist, dass Sie das Gefühl haben, ihr entfliehen zu müssen.«

»Wo soll ich anfangen?«, antwortete er seufzend.  

Zum ersten Mal erkannte Orla, dass sich hinter seinem Spott mehr zu verbergen schien. Etwas, das ihm selbst so unwillkommen war, dass er es mit aller Macht zu unterdrücken versuchte. Es war nur ein leichtes Zucken der Mundwinkel, ein kurzes Flackern in seinen Augen – doch sie erzählten mehr, als ihm vermutlich lieb war. 

»Was würdest du einem Einsteiger empfehlen?«, fragte er und wandte sich wieder der Bücherwand zu.

Eine simple Frage, auf die Orla so spontan keine Antwort hatte. Was gab man jemandem zu lesen, der übersättigt von allem zu sein schien? Mit den Fingern suchte sie die Buchrücken nach Titeln ab, die zum ihm passen könnten. Es musste etwas sein, das ihn herausforderte, ohne ihm allzu fremd zu sein.  

Sollte sie ihn mit Jules Verne zum Mittelpunkt der Erde schicken oder lieber in ein Spukhaus namens Bly? Setzte sie ihn in die Zeitmaschine von Wells oder zeigte sie ihm die sturmzerzausten Höhen von Emily Brontë? Mochte er es düster? Humorvoll? Emotional? Oder war er jemand, der vor großen Gefühlen panisch Reißaus nehmen würde?

Auch wenn Orlas Auswahl lediglich auf Klassiker beschränkt war, schienen die Möglichkeiten zu vielfältig und ihr Wissen über den Dämon zu dürftig, um eine gute Entscheidung treffen zu können.    

Dantes Inferno? 

Vermutlich fand er diese Art der Reiseliteratur lächerlich. 

Oder langweilig. 

Oder beides.

Dickens? Warum sollte er sich für das Elend von damals interessieren, wenn ihm schon die heutige Welt egal war? Andererseits eignete sich der alte Dickens hervorragend, um zu zeigen, wie leer ein Haus blieb, wenn man es nur mit materiellem Ballast füllte. Vielleicht war das etwas, dem der Wohlstandsverweigerer zustimmen würde. Einen Versuch war es wert. Orla griff nach dem Buch und gab es Samael. 

»Große Erwartungen.« Er sah sie skeptisch an. »Das kann doch eigentlich nur in Enttäuschung enden. Je höher die Ambitionen, desto tiefer der Fall, oder?«

»Es geht um das Leben«, sagte Orla unbeirrt. »Wo wollen wir hin? Was ist uns wichtig? Wonach streben wir, wenn wir nach dem Glück suchen.«

»Fragen, die ins Leere führen«, murmelte der Dämon, schlug das Buch auf und blätterte durch die Seiten. Während er einige Passagen überflog, beobachtete Orla seine Mimik auf der Suche nach einem Anzeichen von Interesse. Zufrieden bemerkte sie, dass seine Augenbrauen beim Lesen ganz leicht mittanzten – als würde jedes einzelne Wort wie ein Funke auf ihn überspringen. 

»Der Himmel weiß, dass wir uns niemals unserer Tränen schämen müssen«, las er laut vor. »Denn sie sind der Regen auf den blind machenden Staub der Erde, der über unserem harten Herzen liegt.« Samael runzelte die Stirn und legte das Buch auf den Beistelltisch neben sich. »Was noch?«

Seine Reaktion glich einer Ohrfeige. Ausgerechnet diese Stelle hatte Orla sich vor Jahren beim ersten Lesen auf ein Stück Papier geschrieben, um jedes einzelne Wort zu begreifen und nah an ihrem Herzen aufzubewahren. Zuhause hatte es nach dem Tod ihrer Mutter keinen Platz für Tränen gegeben. Niemand hatte sie in den Arm genommen, wenn sie weinte. Vielmehr schien ihr Kummer ein Ärgernis für andere zu sein.

Allein war sie mit ihren Tränen überfordert gewesen. Sie hatte nicht verstanden, warum ihr Kopf vom Weinen schwerer wurde, obwohl er durch den Flüssigkeitsverlust doch eigentlich leichter hätte sein müssen. Irgendwann war sie zu dem Schluss gekommen, dass Gefühlsausbrüche dieser Art sinnlos waren – reine Zeitverschwendung. Also hatte sie sich die Tränen abgewöhnt. 

Als ihr Dickens begegnet war, hatten seine Worte einen Knoten gelockert, der sich über die Jahre fest um ihre Seele geschnürt hatte. Entsprechend lange hatte es gedauert, bis er sich endgültig löste und aus einem Flüstern über Regen und Staub zaghafte Tränen wurden. Bis sie sich zum ersten Mal erlaubt hatte, dem Druck in der Kehle nachzugeben, weil sie Dickens Worten glaubte.

Dass ausgerechnet eine Szene aus Doyles Lieblingssoap den Knoten gelöst hatte, war ein Geheimnis, das sie mit ins Grab nehmen würde.

»Versuchst du mit Telekinese an die Bücher zu kommen?« Samaels Stimme holte sie wieder zurück in die Gegenwart. »Oder starrst du einfach nur so vor dich hin?«

»Entschuldigung«, murmelte Orla und fokussierte sich wieder auf das Regal. Sarkasmus und Überheblichkeit – das brachte sie auf eine Idee. Eilig kletterte sie die Leiter empor, um an die Bände zu kommen, die unter W einsortiert waren, und reichte ihm schließlich „Das Bildnis des Dorian Gray“ – eine Pralinenschachtel scharfsinniger Gemeinheiten in den Geschmacksrichtungen Zartbitter-Misanthrop, Narziss-Krokant und salzig-elitär. 

Dass er Oscar Wildes Roman ohne nähere Begutachtung zu Dickens auf den Tisch packte, stachelte sie nur noch mehr an, das eine Buch zu finden, das er nicht einfach so aus der Hand legen konnte.

Den Tolstoi präsentierte sie wie in einer Fernsehwerbung – mit einem übertriebenen Zahnpasta-Lächeln und dem berühmten Satz: »Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.«

Etwas in seinem Blick verriet ihr, dass sie damit einen Nerv getroffen hatte. Stumm – und überraschend fordernd – winkte er das Buch herbei, nur um es ungerührt zu den anderen zu packen. 

Das gleiche Schicksal ereilte Alexandre Dumas, Miguel de Cervantes und Mary Shelley.

Orla fragte sich, wie groß der Stapel noch werden musste, bevor der Dämon dieses alberne Spiel beendete und ihr befahl, alles in die Regale zurückzuräumen. 

»Es wäre leichter für mich, wenn Sie mir verraten würden, in welche Richtung es gehen soll«, sagte sie und versuchte, dabei wie jemand zu klingen, dessen Geduldsfaden nicht kurz vor dem Reißen war. »Spannend? Philosophisch? Albern? Ernst?«

»Ich habe da keine Vorlieben.«

Orla seufzte leise in sich hinein. Wenn ihm der Inhalt egal war, konnte sie ebenso gut das nächstbeste Buch, das ihr ins Auge sprang, aus dem Regal ziehen. Die Chancen auf einen Treffer waren dieselben. Sie griff nach einem hellgrauen Wälzer mit Schmuckelementen im Jugendstil und schnappte sich auch gleich den Nachbarn im Ledermantel mit Goldprägung. Das scharlachrote Exemplar ein paar Reihen tiefer landete ebenso in ihrem Arm wie das Buch, dessen filigranes Blumenmuster so aussah, als hätte es jemand fein säuberlich hineingeschnitzt. 

Stil vor Substanz. 

Für den Dämon schienen Bücher lediglich Sammelboxen beliebiger Wörter zu sein – wer sie wann in welche Reihenfolge gebracht hatte, war ihm offenbar gleich.

Nachdem sie nun doch die Göttliche Komödie – wenn auch nur aufgrund reiner Äußerlichkeiten – ausgewählt hatte, entdeckte Orla ein kobaltblaues Exemplar in einer der oberen Regalreihen. Um heranzukommen, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen und ihre Finger ausstrecken und trotzdem reichte es nur für ein hilfloses Ruckeln am Buchrücken. Gerade als sie überlegte, sich die Leiter zu holen, rutschte das Buch aus dem Regal und fiel ihr entgegen. Schützend hielt Orla ihre freie Hand über sich und kniff die Augen zusammen. Doch das Befürchtete blieb aus. Kein Aufprall, kein lauter Knall. Stattdessen ein leichtes Flirren in der Luft. 

Als sie nach oben blinzelte, flatterte das Buch wie ein Jungvogel bei seinen ersten aufgeregten Flugversuchen über ihrem Kopf. Orla war kein Neuling in der Welt der Magie und deshalb nicht leicht zu beeindrucken, doch die zarte Schönheit dieses Moments; die Lebendigkeit, die von ihm ausging, berührte sie auf eine ganz besondere Art, egal wie schlicht der Zauber auch war. Mit leuchtenden Augen folgte sie dem Buch bei seinem Sinkflug direkt in ihre Arme und betrachtete die Buchstaben auf dem Einband: Einsam wie eine Wolke. 

Sie dachte an die ersten Zeilen des Wordsworth-Gedichtes, an das goldene Blumenmeer voller Narzissen, die sie einluden, im Wind zu tanzen. 

And then my heart with pleasure fills,
And dances with the daffodils.

Noch in Gedanken wandte sich Orla vom Regal ab und erschrak, als Samael so dicht vor ihr stand, dass sie ihn in der Drehung versehentlich mit ihrem Körper touchierte. 

Seine Nähe strahlte etwas Wärmendes aus. Wie ein Umhang, der sich um beide gelegt hatte. Ein Umhang, der mit Bleifäden gewebt zu sein schien – so erdrückend, dass ihr das Atmen schwerfiel.

»Verzeihung.« Intuitiv trat Orla einen Schritt zurück und hielt Samael den Bücherstapel mit ausgestreckten Armen entgegen. 

Als er ihn an sich nahm, berührten sich ihre Finger – nur in der Kürze eines Wimpernschlages, doch länger als ihr lieb war. Zaghaft zog sie die Hände unter seinen weg. Einem Predatoren kam man nicht zu nahe, auch wenn er noch so zahm wirkte.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein, Samael.« Die Stimme einer Frau ließ sie hochschrecken. »Würdest du mir bitte erklären, was hier vor sich geht?«

Im Türrahmen der Bibliothek stand Lucinda Kingsley und sah gar nicht glücklich aus.