»Du kommst genau richtig, Mutter«, sagte Samael. Es war faszinierend mitanzusehen, wie fließend der Übergang von einem freundlichen zu einem hämischen Lächeln bei ihm verlief. »Du hast doch Erfahrung mit elitären Geheimbünden. Vielleicht kannst du uns bei unserer kleinen Buchclub-Gründung helfen.«
»Was machst du in meiner Bibliothek?« Für eine so kleine Person wirkte Lucinda Kingsley erstaunlich groß. Als sie sich vor ihrem Sohn aufbaute, reichte sie ihm – genau wie Orla – gerade einmal bis zur Schulter und doch strahlte aus jeder Pore das Selbstbewusstsein einer Riesin. Die spitzen Schulterpolster ihres Hosenanzuges ragten, nun, da sie die Arme verschränkte, wie zwei bedrohliche Stacheln empor. Der strenge Schnitt des Ensembles verstärkte die Wirkung zusätzlich. »Ich erinnere mich nicht, dir den Zutritt erlaubt zu haben.«
»Oh, entschuldige, es war mir neu, dass ich eine Erlaubnis brauche«, sagte ihr Sohn. »Gibt es ein Formular, das ich ausfüllen muss, oder wie läuft das?«
»Samael, die Bücher sind einfach zu wertvoll« Lucinda Kingsleys Blick blieb für einen Moment in der Ecke des Regals hängen. »Es braucht besondere Sorgfalt …«
»Wenn niemand diese Bibliothek betreten darf, du selbst sie aber nie benutzt, wozu ist sie dann gut?«
»Erinnerungen.«
»Erinnerungen?«
»Willst du mir vorschreiben, wie ich mit meinen persönlichen Dingen umzugehen habe? Es sind meine Schätze und ich verwahre sie so, wie ich das für richtig halte«, sagte die Dämonin. »Seit wann interessierst du dich überhaupt für solch irdische Banalitäten?«
»Seit ich dank dir die Zeit totschlagen muss.«
»Das kannst du auch, indem du Bilanzen studierst. So weit ich weiß, steht eine Gesellschafterversammlung an und ohne die entsprechende Vorbereitung …«
»Ich habe das im Blick, Mutter.« Samael wandte sich ab und legte die Bücher, die ihm Orla gegeben hatte, zu den anderen auf den Tisch.
Erst jetzt schien Lucinda Kingsley wahrzunehmen, dass sich noch jemand im Raum befand, obwohl Orla die ganze Zeit über in greifbarer Nähe gestanden hatte. »Was hat das Mädchen hier zu suchen?«
»Sie ist mir behilflich«, antwortete Samael.
»Wobei?« Der Blick, den Orla kassierte, glich dem Stich einer Hornisse.
»Bei der Auswahl der Bücher. Wobei sonst?«
»Und was um alles in der Welt sollte ein Hausmädchen dazu befähigen, dir in dieser Hinsicht Empfehlungen auszusprechen?«
»Vermutlich hast noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt«, sagte Samael. »Sonst könntest du dir diese Frage selbst beantworten.«
Mit strenger Miene musterte die Dämonin ihre Untergebene. »Sie sind hier fertig.«
Orla nickte ihr routiniertes Untergebenen-Nicken, tat ein paar Schritte Richtung Putzwagen, und bedachte Samael mit einem prüfenden Blick. Was seine Mutter vorhin so beiläufig in Bezug auf ihn erwähnt hatte, war zu interessant, um sich zurückzuziehen. War der jüngere Kingsley-Spross stärker in die Familiengeschäfte involviert als gedacht? ,
»Was auch immer er dir ins Ohr gesäuselt hat, vergiss es lieber ganz schnell«, hörte sie Lucinda in ihrem Rücken. »Mein Sohn liebt die Eroberung, doch nichts langweilt ihn mehr als der Gewinn.«
»Du denkst doch nicht etwa …?« Samaels Lachen traf Orla unerwartet. Auch wenn Lucinda meilenweit daneben lag mit ihrer Vermutung, gab es keinen Grund, sie auf dem Weg nach draußen mit pechschwarzem Spott zu übergießen.
»Was immer du mit ihr vorhattest – das endet hier und jetzt«, sagte Lucinda. »Die Mädchen sind tabu. Abgesehen davon hast du wirklich Wichtigeres zu tun.«
»Und seit wann entscheidest du, was wichtig ist und was nicht?«
»Seitdem du selbst ganz offensichtlich nicht in der Lage dazu bist.«
»Weshalb du mir auch so großzügig deine Anteile überschrieben hast.«
Orla horchte auf. Ausgerechnet jetzt, da es spannend wurde, hatte sie die Tür erreicht. Es gab keine Ausrede, länger im Raum zu bleiben. So langsam wie nur möglich schob sie den Wagen in den Flur hinaus und ließ in einem Anflug von hilflosem Aktionismus ihren Staubwedel fallen.
»Oder ist das alles doch Teil eines höheren Plans?«, hörte sie Samael in seinem typisch bissigen Ton fragen. »Willst du mich als Waffe gegen meinen Bruder einsetzen?«
»Ich bitte dich!«, rief Lucinda empört.
Auch wenn sich Orla fast sicher war, dass niemand bemerken würde, wenn sie noch blieb, hob sie den Staubwedel schließlich auf und verließ den Raum. Anstatt die Tür zu schließen, ließ sie jedoch einen Spalt offen, um zu lauschen.
»Du hättest mich doch einweihen können«, hörte sie Samaels tiefe Stimme. »Wenn du mir gleich gesagt hättest, dass du Cyrus systematisch in den Wahnsinn treiben willst, hätte ich mich freiwillig zur Verfügung gestellt.«
»Sei nicht albern, Samael.«
»Nein, wirklich. Ich bin ganz vorne dabei, wenn es darum geht, ihm das Leben schwer zu machen.«
»Siehst du, genau das ist dein Problem. Wieso vertrödelst du unsere Zeit mit solchem Unfug, wenn der Gegner ganz woanders lauert?«
»Welcher Gegner?«
»Kyllian ist tot.«
Für einen Moment war es still. Orla rückte mit dem Ohr näher an den Türspalt, denn das Schweigen konnte nur eines bedeuten: Dass die Neuigkeiten brisant waren. Den Namen Kyllian hörte sie zum ersten Mal. In der Akte hatte sie nichts zu ihm gelesen, und doch schien er – oder vielmehr sein Tod – von enormer Bedeutung zu sein.
»Dein Bruder hat es als unwichtig abgetan», hörte sie Lucinda sagen. »Aber ich fürchte, dass mehr dahinter steckt. Ich glaube, diese Familie ist in ernster Gefahr.«
Samael Kingsley schien es die Sprache verschlagen zu haben. Kein zynischer Kommentar. Kein abfälliges Lachen. Gerne hätte Orla sein Gesicht gesehen, doch die beiden standen abseits ihres Blickfeldes.
»Verstehst du jetzt, warum ich das mit Ethel veranlasst habe?«, hörte sie Lucinda in verschwörerischem Ton. »Warum ich dich in der Nähe wissen will?«
Ethel. Ein weiterer Name, der Fragen aufwarf. Im Kopf schrieb Orla eine Notiz an sich selbst, die familiären Verstrickungen näher von Doyle recherchieren zu lassen. Selbst wenn sie keinen direkten Bezug zum Fall Hildesheimer hatten, ergaben sich vielleicht nützliche Querverbindungen.
Als Orla Schritte hörte, die sich der Tür näherten, schreckte sie zurück.
»Ich verstehe deine Sorge«, ertönte Samaels Stimme durch den Spalt – näher als ihr lieb war. »Aber ich kann die Konsequenzen, die du daraus ableitest, nicht nachvollziehen.«
Lucinda Kingsleys Antwort war nur ein Murmeln – zu leise, um einen Sinn zu entnehmen. Orla widerstand dem Impuls, ihrer Neugier nachzugeben und den Kopf weiter durch die Tür zu stecken. Es war schlauer, abzubrechen. Das Risiko, mit dem Ohr an der Tür erwischt zu werden, stand in keinem Verhältnis zu dem dünnen Rinnsal an Informationen, das aus dem Raum sickerte.
Sie griff nach dem Putzwagen und zog ihn aus der Gefahrenzone, hielt jedoch hinter der nächsten Ecke, um sich die neuen Namen und ihre persönlichen Schlussfolgerungen dazu aufzuschreiben. Wer Bauer, Läufer oder König in diesem Spiel war, blieb weiterhin offen. Umso relevanter schien es, niemanden in seiner Bedeutung zu unterschätzen. Jeder noch so kleine Akteur konnte ein wichtiges Bindeglied in der Kette sein.
Vielleicht hatten sie Samael Kingsley vorschnell abgeschrieben. Wenn er doch eine größere Rolle spielte als bisher angenommen, war es keine schlechte Idee, seine Privatgemächer in die Untersuchungen einzubeziehen.
Die Wanze!
Orla griff in die Tasche ihres Kittels und holte den NanoBug hervor. Nachdenklich betrachtete sie ihn in ihrer Handfläche. Sie würde noch mehr von den kleinen Helfern brauchen. Und sie musste sichergehen, dass alle drei Kingsleys beschäftigt waren, wenn sie den großen Lauschangriff in die Wege leitete. Der Frühlingsball würde eine günstige Gelegenheit bieten, die Wanzen unbemerkt in Position zu bringen.
Gerade als Orla ihre Runde mit dem Wagen fortsetzen wollte, entdeckte sie am Ende des Korridors Nell. Sie winkte ihr zu, doch ihre Zimmergenossin war so sehr damit beschäftig mit gesenktem Blick die Wand entlang zu schleichen, dass sie Orla nicht bemerkte. Ihre Bemühung, unauffällig durch den Flur zu huschen, wirkte amüsant auffällig. Orlas Neugier war geweckt.
Sie ließ ihren Putzwagen in einer Ecke und folgte ihrer Zimmergenossin mit leisen Schritten die Treppe hinauf bis in den Westflügel. Als Nell vor einem Wachmann stehen blieb und ihm zunickte, glaubte Orla an einen schlechten Scherz. Sie erkannte sofort, wessen Tür der Bodyguard mit grimmigem Blick bewachte, denn auf ihrem Plan vom Haus war dieser Ort mit einem dicken, roten Kreuz markiert. Der bullige Mann nickte ebenfalls, als wären die beiden alte Bekannte, bevor er Nell ungehindert passieren ließ.
Orla sah ungläubig zu, wie ihre Freundin in den Privatgemächern von Cyrus Kingsley verschwand. Wieso hatte sie die Zeichen nicht zu deuten gewusst? Nelly mysteriöse Solo-Ausflüge während der Nachtschichten, die Art, wie sie über die Kingsleys sprach – jetzt ergab alles einen Sinn.
Dass ausgerechnet ihre Mitbewohnerin und der Hauptverdächtige in einer wie auch immer gearteten Beziehung zueinander standen, hätte Orla in Jubelschreie ausbrechen lassen müssen. Nell war damit so etwas wie ein goldener Schlüssel. Wenn man es richtig anstellte, würden plötzlich Türen offen stehen, die sie allein nur mühevoll aufgestemmt bekommen hätte.
Doch statt Freude überwog die Sorge.
Darüber, dass Nell sich offenbar nicht im Klaren war, auf wen sie sich da eingelassen hatte. Darüber, dass das Mädchen mit den strahlenden Augen zwischen die Fronten geraten und für immer ihr Lächeln verlieren könnte.