17 Feier und Pflicht

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Lucinda war zufrieden. Die Blaubeer-Meerettich-Suppe hatte mit ihrem satten Violett nicht nur perfekt die Tischdeko komplementiert, sie hatte auch noch ganz vorzüglich geschmeckt. Nachdem Percy sich bei der Wahl des ersten Ganges mit seiner Devise durchgesetzt hatte, lieber etwas zu wagen, als langweiliges Einerlei zu kredenzen, war ein Rest Skepsis geblieben, der sich beim Blick in die Runde jedoch schnell verflüchtigt hatte. Gewiss, einigen vorwiegend menschlichen Gästen war es nicht möglich, ihre Gesichtszüge zu kontrollieren – etwas, das Lucinda außerordentlich belustigte. Doch sie sah das auch als Indiz, diejenigen, die sich nicht für die Suppe begeistern konnten, beim nächsten Mal konsequenterweise auszuladen. Wer nichts wagte, hatte ihre Gastfreundlichkeit nicht verdient. Es sei denn, er würde sich im Laufe des Jahres auf andere Art beweisen und diesen Affront damit vergessen machen.

Ähnlich würde sie die Gesprächsverweigerer handhaben. Dass sich die meisten beim ersten Gang noch reserviert gezeigt hatten, ihre neuen Tischnachbarn heimlich beäugt, sich ansonsten aber lieber ihrem Essen gewidmet hatten, war gerade noch entschuldbar. Niemand jonglierte sofort perfekt – erst recht nicht, wenn er einen fremden Partner zugeteilt bekam. Man musste sich die Bälle erst zurechtlegen, bevor man sie sich zuwarf und es brauchte seine Zeit, um gemeinsam in den Rhythmus zu finden. Doch die Menschen, die beim zweiten Gang noch immer mit sich beschäftigt waren und keinerlei Anstalten zeigten, sich auf das Experiment einzulassen, saßen zum letzten Mal an dieser Tafel. Es standen Hunderte Schlange, die ihren Platz füllen würden.

Senator Vaughn schien sich dessen bewusst und zeigte sich als jonglierfreudiger Gesprächspartner für Roderic Betancourt. Sie scherzten und lachten, als wären sie alte Bekannte. Gleich daneben herrschte jedoch beunruhigende Stille. Cordelia und Samael saßen schweigend nebeneinander und ignorierten sich, als stünde es unter Strafe, ein Gespräch bei Tisch anzufangen. Fieberhaft überlegte Lucinda, wie sie das ändern konnte.

Obwohl sich die Familien seit Jahrzehnten kannten, war sie Cordelia erst ein einziges Mal bei einem Besuch im Haus ihrer Eltern begegnet. Denn die einzige Tochter der Betancourts lebte das Leben einer Einsiedlerin: zurückgezogen hinter den Mauern des Familienanwesens, isoliert von allem und jedem. Lucinda hatte sich immer gefragt, welchen Grund es dafür geben könnte, sich so hartnäckig vor der Welt zu verstecken, schließlich gehörten die Betancourts einer der mächtigsten Dynastien Pandaemonias an. Ihr Name öffnete diesseits und jenseits der Nebelschranken sämtliche Türen und doch hatte Cordelia sich bewusst dagegen entschieden, auch nur eine dieser Schwellen zu übertreten. Macht und Einfluss, Reichtum und Besitz – das alles schien ihr egal. 

Und eben dieses Potenzial einer idealen Schwiegertochter musste genutzt werden. Denn es sprach eher für ein Bündnis beider Familien als dagegen, wenn ein Teil passiver war als der andere und sich augenscheinlich mit wenig zufriedengab. So vermied man unnötige Querelen bei der Verwirklichung ehrgeiziger Pläne. In Konflikten würde sich Cordelia vermutlich eher unterordnen, Erfolge nicht für sich beanspruchen und auch sonst würde sie sich aller Voraussicht nach zurückhalten, anstatt in die Konfrontation zu gehen, solange man sie nur in Ruhe ließ. 

Die Hausherrin bedachte ihre zukünftige Schwiegertochter mit einem prüfenden Blick. Cordelias dunkles Haar, das sie bei ihrer letzten Begegnung noch als Afro getragen hatte, waren nun zu einem Kranz geflochten. Die eingearbeiteten goldenen Zweige ließen ihn wie eine Krone wirken, was gut passte, denn auch ihr rotes Empire Kleid strahlte royale Eleganz aus. Hätte Lucinda es nicht besser gewusst, hätte sie es als Affront verstanden, dass jemand anderes als sie selbst alle Blicke auf sich zog. Doch Cordelias Zurückhaltung glich das Leuchten ihrer Erscheinung wieder aus. Sie hatte kein Interesse daran, im Mittelpunkt zu stehen oder Lucinda ihren Platz streitig zu machen. Sie schien überhaupt kein Interesse an irgendetwas an diesem Abend zu haben. Wortlos stocherte sie in ihrem Essen. 

Mit den richtigen Fragen und einem freundlichen Lächeln hätte Lucinda die Glasglocke, unter der sich Cordelia eingeschlossen hatte, sicher zum Bersten gebracht, doch sie saßen außer Hörweite und Samael schien die Distanz zwischen ihnen mit seinem Schweigen nur noch zu vergrößern. Sie ahnte die Gründe für sein Verhalten und dass sie nichts gegen seine stumme Rebellion unternehmen konnte, ohne sich vor den Gästen der Lächerlichkeit preiszugeben, ärgerte sie. Auch wenn er sich mehr als kindisch benahm, konnte sie ihn schlecht auf sein Zimmer schicken. 

»Du könntest ihr wenigstens ein Kompliment machen«, zischte sie leise in seine Richtung.

»Wem?« Samael blickte nicht einmal von seinem Teller auf.

»Tu nicht so. Du weißt genau, wen ich meine.«

»Warum? Weil sie den Löffel so elegant hält?«

»Neben dir sitzt eine schöne Frau, die einsam zu sein scheint«, murmelte Lucinda. »Wo bleiben deine Manieren?«

»Meine Manieren bewahren mich davor, sie beim Essen zu stören. Ich habe nämlich nicht das Gefühl, dass sie reden möchte.«

»Woher willst du das wissen, wenn du es nicht versucht hast?«

»Intuition«, antwortete Samael. »Aber wir können gerne die Plätze tauschen, dann findest du selbst heraus, wie sie dazu steht.«

»Samael, ich bitte dich. Einer von euch muss den ersten Schritt machen. Wie wollt ihr euch denn besser kennenlernen, wenn ihr euch anschweigt?«

»Wir haben noch den ganzen Abend Zeit, Oberflächlichkeiten auszutauschen«, sagte Samael. »Ich kann auch später mit ihr über das Wetter reden.« Er neigte sich zu ihr und sah sie an. »Oder wir springen gleich zu dem Teil mit den übergriffigen Verwandten, die über das Leben anderer bestimmen. Ich bin sicher, wir finden einiges an Gemeinsamkeiten.«

Lucinda wollte etwas entgegnen, doch sie spürte schon die ersten neugierigen Blicke auf sich. Der Kopf der Tafel war in etwa so gut geeignet, diesen Konflikt auszutragen wie die Bühne eines Provinztheaters und diese Art Unterhaltung war aus guten Gründen nicht im Programm des Abends vorgesehen. Cordelia schien endgültig der Appetit vergangen zu sein. Stumm saß sie da, den Rücken steif an die Stuhllehne gepresst, und ließ ihren Blick durch den Saal schweifen. In der Hoffnung, sich mit ihr solidarisieren zu können und damit ein wenig abzumildern, was Samael mit seinem Trotz angerichtet hatte, tat Lucinda es ihr gleich und lehnte sich ebenfalls zurück, um ihr hinter dem Rücken ihres Sohnes ein mütterliches Lächeln zu schenken. 

Zu ihrer Enttäuschung trafen sich ihre Blicke nicht, denn Cordelia war zu sehr damit beschäftigt, das Geschehen am Rest der Tafel zu beobachten. Dennoch fiel Lucinda etwas Interessantes an ihrem Verhalten auf. Sie kannte das schüchterne Blinzeln der Überforderung und wusste, wie Hilflosigkeit aussah, doch Cordelia zeigte seltsamerweise keines dieser Muster. Die Sehnsucht nach dem Woanders – weit weg von hier, in einem anderen Jetzt – sie war deutlich spürbar und ihr Glaspanzer schien sich immer weiter zu verhärten. Allerdings observierte sie ihre Umgebung mit einer kühlen Distanz, die Lucinda so nicht erwartet hatte – ohne den von Melancholie getrübten Blick derjenigen, die Geselligkeit scheuten, weil sie unsicher oder ängstlich waren. Aus ihr sprach kein Zweifel, sondern Unwillen. Der kühne Glanz in ihren Augen zeugte von einem Gefühl, nicht dazugehören zu wollen und kam Lucinda bekannt vor: Der Wunsch, sich von allem abzuspalten, weil man anders war. Besser als das. 

Selbst gegenüber ihren Eltern war diese Distanz zu spüren. Cordelia schien das Zusammentreffen der Familien ebenso abzulehnen wie Samael und das machte es fast schon wieder vergnüglich, den beiden bei ihrem Schweigeritual zuzusehen. Denn ohne es zu ahnen, hatten sie mit ihrer stummen Verweigerung begonnen, ein gemeinsames Fundament zu gießen. Es fehlte nur ein kleiner Schubs, um darauf aufzubauen. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sie mehr Gemeinsamkeiten entdeckten als die Abneigung gegen alles Aufgezwungene. 

Lucinda lehnte sich zufrieden nach vorne und widmete sich den Resten auf ihrem Teller. Sie war zuversichtlich, mit Cordelia Betancourt eine gute Wahl getroffen zu haben. Mit etwas Glück würden die beiden Auserwählten wider Willen in all dem Abstand zu anderen schon bald die Nähe zueinanderfinden.