7 Die Ordnung der Dinge

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Orla holte Luft und versuchte, die Bilder aus ihrem Kopf zu verbannen, doch der Geruch blieb hartnäckig in ihrer Nase und hielt die Szene lebendig. Es war weniger der Schock über die Tat als Erstaunen darüber, wie offen Cyrus Kingsley seine Grausamkeiten auslebte – am helllichten Tag und mit dem Wissen, dass es Zeugen geben könnte. Entweder war seine Zündschnur so kurz, dass er die Situation nicht kontrollieren konnte, oder es war ihm schlichtweg egal. Beides ließ auf einen unberechenbaren Charakter schließen. Kein überraschender Befund, dennoch ein interessantes Detail, das sie unbedingt in seinem Profil vermerken würde. Für das Gespräch mit Madame Mildred waren all diese Gedanken jedoch eher hinderlich, also versuchte sie, alles abzuschütteln, bevor sie ihre Bürotür klopfte und ohne eine Antwort abzuwarten eintrat. Die Hausdame sah überrascht von ihrem Sekretär auf, fast so, als hätte sie ihre gemeinsame Verabredung vergessen. 

»Alles in Ordnung?« Sie musterte Orla skeptisch. »Man könnte meinen, Sie hätten einen Geist gesehen.«

Einen kurzen Moment überlegte Orla, ob sie das, was sie gerade erlebt hatte, ansprechen sollte, doch es fiel ihr kein Szenario ein, das zu ihren Gunsten ausgehen würde. Sie kannte das System nicht. Sie hatte keine Ahnung, ob Madame Mildred nur knöcheltief durch den Sumpf watete oder ob sie bis zum Hals drin steckte. Außerdem hatte Orla sich unerlaubt an der Treppe aufgehalten und würde vermutlich eine Rüge kassieren, weil sie ihre Nase in Angelegenheiten steckte, die sie nichts angingen.

»Mir geht es gut, Ma’am«, sagte sie und lächelte jegliche Gedanken an Cyrus weg. »Ich musste mich nur beeilen, um pünktlich hier zu sein. Deshalb bin ich etwas gehetzt.« Sie erhöhte das Tempo ihrer Worte, um glaubhafter zu klingen. »Meine Zimmergenossin hat mich noch ein wenig herumgeführt und mir einiges erklärt, sodass ich fast die Zeit vergessen …«

»Sie haben sich also schon einander bekannt gemacht?«, unterbrach Madame Mildred sie ungerührt. »Das freut mich zu hören. Nelida ist eines meiner besten Mädchen im Haus. Sie wird in der ersten Zeit Ihre Schichten begleiten. So kann sie Sie optimal einarbeiten.«

Orla fiel jetzt erst auf, dass Madame Mildreds Büro keine Fenster besaß. Generell erinnerte der Raum mit der minimalen Einrichtung und den kargen Wänden, deren Anstrich auf unappetitliche Weise ausgespucktem Babybrei glich, eher an eine Verhörzelle der APA. Lange hielt man es hier nicht aus – so ganz ohne Tageslicht oder frische Luft.

»Ihre Uniform haben Sie auch gefunden«, sagte Madame Mildred und es klang verdächtig sarkastisch – als hätte sie das Orla nicht zugetraut. »Dann können wir ja gleich loslegen.« Statt ihren eigenen Worten zu folgen, widmete sich die Hausdame jedoch ihren Unterlagen und ließ ihre Untergebene warten. 

Erinnerungen an Dave und sein Faultiertempo wurden wach und erneut stand die Frage im Raum, wie viel von diesem Hinhalten Taktik war, um die Geduld anderer zu testen. Immerhin blieb damit mehr Zeit, das Minibüro zu inspizieren.

Abgesehen von dem altmodischen Sekretär ihrer Chefin und zwei Aktenschränken in der Ecke gegenüber gab es nicht viel in dem Raum. Orla war nicht sicher, was sie erwartet hatte, aber gemessen daran, dass von hier aus sämtliche Fäden im Bereich der Hauswirtschaft zusammenliefen, erschienen ein vergilbter Kalender aus dem Jahre 1953 und eine leere Obstschale etwas dürftig. Es gab keine Computer, keinen Schichtplaner an der Wand oder sonst irgendetwas, das Madame Mildred das Management von mehr als hundert Angestellten erleichterte. 

Dass jemand von ihrem Rang sich mit einer derart schäbigen Abstellkammer zufriedengeben musste, wunderte Orla. Bei der Größe des Anwesens hätte man ihr gewiss auch etwas Netteres herrichten können als diesen Schuhkarton ohne Ausblick. 

»Das Wichtigste haben wir ja schon im Vorgespräch geklärt«, sagte die Hausdame, ohne aufzublicken. Sie setzte eine schwungvolle Unterschrift auf das Papier in ihren Händen und erhob sich. »Die allgemeinen Hausregeln und Ihre Pflichten als Bedienstete finden sich in ihrem Nachtschrank. Ich möchte, dass sie sich gründlich mit allem vertraut machen.«

Während Madame Mildred einen der Aktenschränke aufschloss, rekapitulierte Orla ihr Bewerbungsgespräch und die vielen Einschränkungen, die ihr damals prophezeit wurden. 

Neben der Bereitschaft, sechs Tage die Woche in unterschiedlichen Schichten zu arbeiten, wurde von allen Angestellten erwartet, dass sie ihre wenige Freizeit innerhalb der Mauern von Thornwood verbrachten. Korrespondenz nach draußen, egal welcher Art, wurde kontrolliert. Besuche waren nur in Ausnahmefällen und nach sorgfältiger Prüfung erlaubt. Thornwoods Mauern glichen damit einem idyllisch gelegenen Gefängnis. Da es bei den „Kindern der Sonne“ jedoch ähnlich streng zugegangen war, würde sich Orla nicht übermäßig umstellen müssen.

»Sie werden sich erst mal als Springer überall ausprobieren und dann schauen wir, auf welche Position wir Sie dauerhaft setzen.« Madame Mildred reichte ihr eine Uhr. »Die werden sie während ihrer gesamten Schicht tragen – zu jeder Zeit, an jedem Ort. Sie funktioniert wie ein Pager.« 

Orla überlegte, wann sie das letzte Mal das Wort Pager gehört und so ein Ding gesehen hatte. Ihr fielen nur alte Krankenhausserien aus den Neunzigern ein.

»Es ist wichtig, dass Sie für mich jederzeit erreichbar sind«, sagte Madame Mildred. Die Vehemenz in ihrer Stimme ließ Orla aufhorchen. Skeptisch betrachtete sie das Display der Digitaluhr, während sie das Armband um ihr Handgelenk legte. Es war nicht ausgeschlossen, dass sich im Inneren mehr versteckte als ein Funkdienst für Nachrichten. Wenn die Uhr zusätzlich mit einem GPS-Tracker ausgestattet war, hatte Orla ein Problem. Vermutlich war es ratsam, von Garrett und Jones ein Duplikat anzufordern, das nicht jeden ihrer Wege abseits der erlaubten Routen aufzeichnete.

»Und sie zeigt sogar die Uhrzeit an«, sagte Orla mit Blick auf die rot leuchtenden Zahlen. »Wie praktisch.«

»Miss Davis?« Madame Mildred runzelte die Stirn.

»Ja, Ma’am?«

»Ich weiß nicht, wie Lord Grimshaw das mit Ihnen gehandhabt hat, aber bei uns reden Sie bitte nur, wenn Sie gefragt werden.«

»Ja, Ma’am.« Orla verschränkte die Hände vor dem Schoss und presste die Lippen zusammen. 

»Ihnen wird sicher aufgefallen sein, dass Thornwood etwas größer ist als das Anwesen Ihres letzten Dienstherren«, fuhr Madame Mildred fort. »Das Aufgabengebiet ist deshalb vielfältiger und das kann anfangs eine Herausforderung sein. Aber es ist durchaus möglich, dass Sie eine ganz neue Berufung finden, von der Sie bisher nichts wussten.«

Orla schmunzelte in sich hinein. Wenn sie eines bereits gefunden hatte, dann war es ihre Berufung.

»Sobald Sie alle Positionen durchlaufen haben, wissen wir hoffentlich, in welchem Bereich Ihre Stärken liegen und für welche Arbeiten Sie besonders geeignet sind.«

»Ja, Ma’am.«

»Sie müssen nicht alles kommentieren, was ich sage.«

»Ja, M…« Orla schluckte die restlichen Buchstaben hinunter und versuchte, ihren Fauxpas mit einem angedeuteten Knicks zu kaschieren. 

»Haben Sie noch Fragen?« 

»Keine, die sich nicht eventuell von selbst beantworten lässt«, antwortete Orla. »Und zur Not hab ich ja noch Nell.« 

»Ich bin sicher, dass Nelida Ihnen eine gute Lehrerin sein wird.« Es folgte das erste richtige Lächeln der Hausdame. »Sind Sie bereit, ganz offiziell in den Dienst der Kingsleys zu treten?« 

»Das bin ich.« 

»Schwören Sie diesem Haus treue Dienste zu leisten und die Autorität Ihrer Vorgesetzten nie infrage zu stellen?«

»Ich gelobe, meine Pflichten jederzeit gewissenhaft zu erfüllen.« Orla war sich nicht sicher, ob diese Zeremonie ernst gemeint war oder ob Madame Mildred gerade einen ganz eigenen Sinn für Humor bewies. Der Kontrast zwischen schäbigem Hinterzimmerflair und feierlicher Gelöbnisstimmung hätte nicht größer sein können.

 »Dann wird es jetzt Zeit für die Schatzkammer.« Die Hausdame deutete auf eine Tür, die Orla vorher nicht bemerkt hatte, weil die Aktenschränke die Sicht versperrten. Orla folgte ihr durch die Tür einen schmalen Gang entlang. 

»Für die größeren Einsätze gibt es spezielle Rollwagen auf jeder Etage«, erklärte Madame Mildred, während sie eine Wendeltreppe hinabstiegen. »Daneben bekommen sie aber auch einen eigenen Korb mit der Grundausstattung, für dessen Vollständigkeit sie persönlich die Verantwortung tragen.«

Obwohl sie wusste, dass es vermutlich klüger war, ihrer Chefin die volle Aufmerksamkeit zu schenken, hörte Orla nur mit halbem Ohr zu. In Gedanken versuchte sie ihren angefangenen Grundriss von Thornwood zu aktualisieren, doch alles verschwamm miteinander. Die endlosen Flure und Treppen waren schon Herausforderung genug. Geheime Hinterzimmer und fensterlose Gänge machten die Sache nicht leichter. Sie würde viel Zeit brauchen, um einen vollständigen Plan erstellen zu können. 

Als sie endlich am Ziel waren, hatte Orla bereits die Orientierung verloren. Madame Mildred schloss die eiserne Tür auf und gab den Blick frei auf einen Raum, der in seinen Dimensionen einem Supermarkt glich.

»Willkommen in unserem Heiligtum.« Beim Anblick der Regale, die bis unter die Decke mit Reinigungsmitteln und Putzutensilien gefüllt waren, begriff Orla, warum die Hausdame zuvor das Wort Schatzkammer gewählt hatte. Dennoch fragte sie sich, wie ernst das Ganze gemeint war. 

»Bedienen Sie sich«, sagte Madame Mildred. »Ich kenne Ihre Präferenzen nicht, aber die Auswahl sollte groß genug sein.«

Da Orlas Witze bisher bei niemandem auf Thornwood gezündet hatten, verkniff sie sich vorsichtshalber den ironischen Verweis über wahrgewordene Mädchenträume, und nicht zum ersten Mal an diesem Tag dachte sie an Doyle, der als Startschuss seines Kalauerfeuerwerks von seinem Faible für vierfach verflüssigte Fleckvorreiniger und flächenverschönernde Fensterversiegler fabuliert hätte.

Als das Klingeln eines Telefons ihre Gedanken unterbrach, war Orla nicht unglücklich darüber, denn Madame Mildred ließ sie allein, um den Anruf auf ihrem Handy anzunehmen. Sie brauchte keine stille Beobachterin, die schnell merken würde, dass sie keine Ahnung hatte. Niemanden, der mit jedem unsicheren Griff ins Regal realisieren würde, dass sie das Gegenteil von Sauberkeit wollte.

Jeden Fleck auf der weißen Weste würde sie konservieren, anstatt ihn zu reinigen und alles an schmutziger Wäsche einsammeln – Stück für Stück – um sie am Ende der Staatsanwaltschaft vorlegen zu können. 

Sie war hier, um aufzuräumen. 

Auf ihre ganz eigene Art.