Nach ihrer Rückkehr drehte Madame Mildred zunächst eine Inspektionsrunde im Salon. Obwohl Orla penibel darauf geachtet hatte, jede noch so kleine Taubenfeder aufzusammeln und alles in einen perfekten Zustand zu bringen, war sie nervös. Für das kommende Gespräch war sie auf das Wohlwollen der Hausdame angewiesen und ein perfekt geputzter Tatort schien dafür unabdingbar.
Madame Mildred ließ sich Zeit und schaute sogar in den Ritzen zwischen Fenster und Wand nach, bevor sie anerkennend nickte und Orla den Platz zuwies, an dem der leidige Vorfall seinen Anfang genommen hatte. »Erzählen Sie mir, was vorhin zwischen Ihnen und Miss Cilla passiert ist.«
Orla setzte sich und senkte den Blick. Die wenigen wahren Fragmente, die sie sich für ihre Geschichte zurechtgelegt hatte, passten gerade so ineinander. Sie musste ihre Rolle von nun an überzeugend spielen, damit es auch funktionierte.
»Es ist meine Schuld.« Sie räusperte sich. »Ich habe sie wohl verärgert.«
»Wie habe ich das zu verstehen?«
Geschickt eingesetzte Pausen waren wichtig für die Glaubwürdigkeit. Jede Geste musste sitzen. Orla holte tief Luft, als würde sie das Erlebte noch immer so verstören, dass sie nicht in der Lage war, die richtigen Worte zu finden. »Als ich in Master Samaels Gemächern war, schimpfte Miss Cilla über die Tauben vor dem Fenster.« Ein Beben in ihre Stimme zu bekommen, war schwerer als gedacht. »Und ich habe mich zu einer gedankenlosen Bemerkung hinreißen lassen.«
»Hatte Sie nach Ihrer Meinung gefragt?«
Orla wagte einen kurzen Blick über den Tisch und schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Dann verstehe ich nicht, was Sie dazu veranlasst hat, ihren Gedanken laut auszusprechen.«
Die Wahrheit war zu kompliziert. Die Geschichte musste simpel bleiben, um plausibel zu sein.
»Ich weiß, es war falsch. Es ist einfach aus mir herausgeplatzt. Ich habe versucht, die Situation zu retten, aber es schaukelte sich irgendwann hoch. Sie wurde laut und …« Orla faltete die Hände über ihrem Schoß zusammen. »Wenn Master Samael nicht eingegriffen hätte.«
»Dann was?«
Wieder zögerte Orla, bevor sie Madame Mildred direkt in die Augen sah. »Er hielt Miss Cilla gerade noch davon ab, mit dem Schürhaken auf mich loszugehen.« Im Nachhinein war sie froh, dieses Detail nun gegen Cilla verwenden zu können. Sollte Madame Mildred nachfragen, würde Samael Kingsley die Geschichte vermutlich bestätigen. Schließlich wäre er nicht dazwischen gegangen, wenn es ihn in dem Moment kalt gelassen hätte.
»Sie hätten sofort zu mir kommen müssen«, sagte die Hausdame. »Gleich nach dem Vorfall.«
»Ich habe mich nicht getraut, weil ich doch Miss Cilla mit meinem vorlauten Geplapper provoziert habe.«
So richtig wohl fühlte sich Orla nicht in der von ihr gewählten Rolle. Schon früh hatte sie lernen müssen, dass Angriff immer noch die beste Verteidigung war und Hilfe selten von außen kam, weshalb sie es normalerweise tunlichst vermied, eine derart passive Haltung einzunehmen. Erst als sie im Gesicht ihrer Vorgesetzten einen Ausdruck entdeckte, den sie vorher noch nie bei ihr gesehen hatte, ahnte sie, dass die Entscheidung, das überforderte Mädchen zu spielen, richtig gewesen war.
Wenn man wusste, wie beherrscht Madame Mildred sonst war, waren die Fältchen an der Nasenwurzel und die zuckende Oberlippe eindeutige Indizien dafür, dass ihr die Empörung aus jeder Pore tropfte.
»Nichts rechtfertigt Handgreiflichkeiten gegen meine Mädchen«, sagte sie.
Orla konnte sich ein zufriedenes Lächeln gerade noch verkneifen. Egal, was Cilla zu ihrer Verteidigung vorbringen würde und selbst wenn Samael Kingsley bezeugen konnte, dass diese freche Hausmädchen sich im Ton vergriffen hatte – es würde keine Rolle spielen.
»Und was sollte das mit der Taube?«, fragte Madame Mildred. »Wo kam die her?«
»Miss Cilla wollte mich wohl bestrafen«, antwortete Orla, ohne zu zögern. »Ich sollte mitansehen, wie sie dem Tier den Hals umdreht.«
»Aber die Taube ist entwischt.«
Orla beließ es bei einem Nicken. Wie genau sie entkommen konnte, spielte für diese Version der Geschichte keine Rolle.
»Ist das alles? Oder gibt es noch etwas, das ich wissen müsste?«
»Das ist alles.« In einem Anflug von Unsicherheit überlegte Orla, ob sie die klitzekleine Kleinigkeit erwähnen sollte, dass Cilla ihr inzwischen vermutlich nach dem Leben trachtete. Doch die Gefahr, damit neue Fragezeichen zu provozieren, war zu groß und die Geschichte des harmlosen Dienstmädchens, dessen einziges Vergehen ein vorlautes Mundwerk war, würde nur unnötig ins Wanken geraten.
»Gut, dann werde ich das mit Master Kingsley klären«, sagte Madame Mildred und erhob sich, nur um plötzlich inne zu halten. »Miss Davis?«
»Ja?«
»Ich werde Ihnen einen guten Rat geben. Wenn Sie eine Zukunft in Thornwood haben wollen, müssen Sie unverzüglich ihre Einstellung ändern. So sehr ich das Verhalten unseres Gastes missbillige – Sie waren diejenige, die sich nicht an die Hausregeln gehalten hat.« Sie betrachtete die Stelle, an der Cilla zu Fall gekommen war, als ahnte sie, dass noch mehr hinter der Geschichte steckte. »Ich wiederhole mich ungern, aber Ihre persönliche Meinung interessiert hier niemanden, Miss Davis. Wenn Sie Gesprächsbedarf haben, tauschen Sie sich mit den anderen Mädchen aus, aber behelligen Sie nicht die Herrschaften. Wenn Sie nach ihrer Meinung gefragt werden und diese widerspricht in irgendeiner Weise dem, was die Familie Kingsley geäußert hat, schlucken Sie es runter. Wenn Sie sich durch Aussagen der Herrschaften angegriffen fühlen, schlucken Sie es runter. Niemanden kümmert, was Sie wirklich denken.«
»Ja, Ma’am.« Orla erhob sich ebenfalls und nickte unterwürfig.
»Keine Widerworte, keine Besserwisserei, nichts.«
»Ja, Ma’am.«
»Ich erwarte absoluten Gehorsam.«
»Natürlich, Ma’am.«
Madame Mildred betrachtete Orla, als würde sie sich zum wiederholten Male fragen, was zum Teufel sie sich da ins Haus geholt hatte. »Ich kann Sie nicht in den persönlichen Service stecken, wenn ich davon ausgehen muss, dass Sie sich nicht benehmen können.«
»Es wird nicht wieder vorkommen, Ma’am.«
»Das will ich hoffen.« Ihre Stimme klang versöhnlicher. »Um sicherzugehen, werden Sie allerdings bis auf Weiteres in der Waschküche arbeiten.«
Für einen Moment glaubte Orla, sich verhört zu haben. Sie blinzelte irritiert. Eine Disziplinarmaßnahme hatte sie einkalkuliert, aber eine Verbannung aus dem regulären Betrieb war in ihrer Planung nicht vorgekommen.
»Zumindest solange Master Samaels Bekanntschaft noch unser Gast ist. Mit Ihnen im Untergrund vermeiden wir hoffentlich weiteren Ärger.«
»Ja, Ma’am.« Die Enttäuschung schmeckte bitter auf der Zunge. »Danke Ma’am.«
Wie sollte sie ermitteln, wenn sie in irgendwelchen unterirdischen Katakomben eingesperrt war?
»Ich gehe davon aus, dass Miss Cilla nicht mehr lange unter uns weilt«, sagte Madame Mildred. »Für gewöhnlich sind diese Bekanntschaften so überraschend verschwunden, wie sie aufgetaucht sind.«
Die Wortwahl war seltsam. Hätte Orla mehr Sympathien für Cilla übrig gehabt, würde sie sich nun Sorgen um sie machen.
»Madame Mildred?«
»Ja, Miss Davis?«
»Was ist mit der Taube?«
Die Hausdame lächelte milde. »Sie ist in guten Händen. Wenn Sie mit Ihrer Schicht fertig sind, können Sie gerne nachsehen gehen.«
»Danke, Ma’am.«
Orla erwischte sich bei einem ungelenken Knicks, den Madame Mildred aber ebenso wenig mitbekam wie ihr leises Fluchen. Obwohl es besser gelaufen war als erwartet, schien ihre Lage nun schlechter als zuvor. Die APA würde sich nicht für die Anzahl der Trockner oder den bevorzugten Weichspüler der Kingsleys interessieren. Wertvolle Tage würden ungenutzt verstreichen.
Andererseits war es gar nicht so abwegig, im Wäsche-Exil auszuharren, bis Ruhe eingekehrt und Cilla Geschichte war. In einem anderen Leben hätte sie mit großem Vergnügen die Überlegenheitsfantasien der Dämonin pulverisiert. In diesem Leben war es klüger, die Füße still zu halten.
Und so ignorierte sie – wenn auch etwas widerwillig – die trotzige Stimme, der es nach einem weiteren Treffen mit Cilla gelüstete.
Wozu die Messer wetzen, wenn das Problem sich bald in Luft auflösen würde?