10 Sensentanz

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»Beim nächsten Mal vielleicht etwas weniger Papaver somniferum«, brummte der Heiler, während er etwas in das Büchlein kritzelte. Der Blick auf die Wanduhr schien ihn zu enttäuschen. »Nur zwanzig Minuten. Da müsste man vielleicht die Dosis erhöhen.« Dass er nicht allein im Zimmer war, schien er völlig vergessen zu haben. Völlig ungeniert kratzte er sich an seinem Allerwertesten, während er auf und ab schritt.

Orla hatte inzwischen Gesellschaft von der Sphinx Katze bekommen, die sich direkt neben sie setzte und den Warlock mit einem ähnlich fragenden Blick bedachte. Der ignorierte sein Publikum jedoch weiterhin und eilte zu einem seiner Regale, um ein Glas mit getrockneten Blüten herauszunehmen. Erst jetzt fiel Orla auf, in welches Kuriositätenkabinett sie hineingestolpert war. Skurrile Apparaturen aus den letzten Jahrhunderten stapelten sich neben Tier-Präparaten in Formaldehyd. In einer Art Stillleben hingen verrostete Bohrer, Zwingen und Schraubstöcke in Übergröße an der Wand gleich neben der Tür. Vermutlich hatten sie alle eine eigene Geschichte zu erzählen, doch Orla war nicht sicher, ob sie die dazugehörigen Grusel-Anekdoten auch hätte hören wollen. In einem der Regale fand sich ein unförmiger Holzkopf, eingespannt in ein Drahtgestell, das mit Schrauben, Kabeln und Elektroden versehen war. Ob es sich hierbei um das Modell einer Heil- oder aber einer Foltermethode handelte, war vermutlich Auslegungssache.

»Wenn du noch weiter da sitzen bleiben willst, werden wir Miete von dir verlangen müssen«, hörte sie den Warlock sagen. 

Orla rappelte sich auf. »Entschuldigung, ich dachte …« Ja, was dachte sie eigentlich? Die letzten Minuten war so chaotisch verlaufen, dass sie ihre Gedanken erst einmal einfangen und sortieren musste.

»Haben wir dich erschreckt?«, fragte der Warlock, während er die getrockneten Blüten mit Mörser und Stößel zerkleinerte.

Orla sah sich irritiert um. Wen meinte er mit wir?

»Dachtest du, wir seien …?« Er drehte sich zu ihr um und sah sie prüfend an. Ehe Orla etwas antworten konnte, nickte er zufrieden. »Exzellent!«

Das war nicht unbedingt das Wort, das Orla dazu einfiel, doch für Diskussionen fehlte ihr nach dem Schreck die Energie. 

»Entschuldige unseren Aufzug«, sagte der Heiler. »Wir können einfach besser denken, wenn wir nicht so eingeengt sind von Stoffen, Nähten und anderen Konventionen.« Er widmete sich wieder den Blüten. »Und auf Besuch waren wir so spät nicht mehr eingestellt.« 

»Ich bin eigentlich nur wegen der Taube hier«, entgegnete Orla fast schon entschuldigend. 

»Welche Taube?«

»Die verletzte Taube?« Ihr Blick fiel auf die sorgfältig der Größe nach aufgereihten Tierschädel im Regal und wanderte von den Überresten einer Maus bis zum Haupt eines katzenähnlichen Wesens mit Säbelzähnen. Schnell versuchte sie, den Gedanken beiseitezuschieben, dass der Warlock auch ein wissenschaftliches Interesse an ihrem gefiederten Freund haben könnte.

»Ach, die Taube.« 

Mit wie vielen solcher Fälle er wohl täglich zu tun hatte? Vorsichtshalber hängte Orla ein »Madame Mildred hat sie heute Vormittag vorbei gebracht.« hinten an.

»Richtig.« Er drehte sich abrupt um. »Da haben wir schlechte Nachrichten.«

Die Wucht dieser Worte traf sie unerwartet heftig. So schwer hatte sie die Verletzungen des armen Tieres gar nicht eingeschätzt. 

Der Warlock zeigte mit dem Stößel auf eine weitere Tür. Für jemanden, der nicht das Privileg hatte mit den Kingsleys verwandt zu sein, verfügte er über erstaunlich viele Zimmer. Zögerlich folgte Orla seinem Wink und betrat den Nebenraum. Ihr Herz schlug bis zum Hals, während sie den Lichtschalter suchte – unsicher, welcher Anblick sie erwarten würde.

»Wir konnten den Flügel nur notdürftig richten«, hörte sie den Warlock rufen, realisierte die Bedeutung dieses Satzes aber erst, als sie den kleinen Patienten – leicht zerrupft und bandagiert – in einem Käfig sitzend vorfand. Trotz des mitleiderregenden Anblicks seufzte sie erleichtert. Lädiert, aber lebendig! Der Rest würde sich schon finden.

»Na, du?« Orla berührte mit den Fingerspitzen den Käfig. Die Knopfaugen der Taube waren geschlossen und der Kopf so weit eingezogen, dass er fast in der aufgeplusterten Brust verschwand und so wirkte das leise Gurren, als würde sie schlecht träumen. »Das war alles ganz schön viel für dich, was?« 

»Der Flügel war leider an der Handschwinge gebrochen.« 

Orla erschrak, denn sie hatte den Warlock nicht so dicht hinter sich erwartet. 

Ungerührt bearbeitete er mit Mörser und Stößel seine Kräutermischung, während er sie über den Gesundheitszustand des Sorgenkindes aufklärte. »Wir haben es gerichtet und ihr was gegen die Schmerzen gegeben, aber ob unsere provisorische Stütze ausreicht, steht in den Sternen. Wir sind ja kein Tierarzt.«

»Gibt es für solche Fälle nicht irgendein magisches Elixier«, fragte Orla, ohne den Blick von der schlafenden Taube zu lassen.

»So einfach ist das nicht. Die dunklen Mächte für etwas so Lapidares zu missbrauchen, wäre ein frevelhaftes Vergehen.«

»Und dieser Cocktail für Scheintote läuft unter …?«

»Private Fortbildung.« Die Stimme des Warlocks sprang eine Oktave höher. »Wir müssen schließlich auf dem Laufenden bleiben.« Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum.

Orla dachte an den Spruch mit den getroffenen Hunden. Sie folgte ihm, um sich für ihren flapsigen Kommentar zu entschuldigen, vergaß aber, was sie sagen wollte, als sie den modernen Edelstahlkessel mit Digitalanzeige erblickte, den sie eher in einer Großküche erwartet hätte als hier in den Privatgemächern des Hofmagiers. Wieso war ihr dieses Technikmonstrum nicht früher aufgefallen? Der Warlock goss den Inhalt einer braunen Flasche in den Kessel, zupfte ein paar Beeren von einem Zweig und warf sie zusammen mit etwas, das aussah wie ein zu groß geratenes Stück Kandiszucker in den Sud, der daraufhin wild aufbrodelte. 

»Vorsprung durch Technik?«, rief Orla in das Spektakel hinein. 

Der Warlock bedachte sie mit einem überraschten Blick. Offenbar war sie erneut von seinem Radar gefallen. Er tippte etwas in das Nummernpad und schloss den Deckel. »Wer nicht mit der Zeit geht, wird von ihr zurückgelassen.«

 »Und der alte Kessel im Vorzimmer?«

»Reine Nostalgie«, sagte der Warlock und winkte ab. »Mehr als Pfefferminztee brauen wir damit nicht mehr.« Er legte die Hand auf das Gestell des Edelstahlkessels, als würde er einem treuen Freund auf die Schulter klopfen. »Mit dem Wunderding hier kann man viel genauer arbeiten, was Temperatur und Rotationsgeschwindigkeit angeht.« 

»Das glaube ich gern«, sagte Orla. »Auch wenn es dem Ganzen ein wenig den Zauber nimmt.«

»Dieses Bedauern teilst du mit Lady L.« Schmunzelnd streichelte der Warlock über das Metall des Kessels. »Alles, was auch nur den Anschein von Moderne erweckt, ist ihr ein Graus. Nur ihr zuliebe sieht es im Vorzimmer aus wie in der Kräuterküche unseres Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvaters.« Er zwinkerte ihr zu und legte den Finger auf seinen Mund. »Wenn sie wüsste, dass all unsere Pergamente und Bücher längst digitalisiert sind, würde sie vermutlich vom Glauben abfallen.«

Es kam nicht oft vor, dass Orla jemanden auf Anhieb sympathisch fand, doch nach Nell passierte es nun schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit. Die kauzige Art des Warlocks erinnerte sie an ihren Großvater, mit dem ihr nur wenige Jahre vergönnt gewesen waren. Irgendwie planlos, aber immer auf der Suche nach dem nächsten Bastelprojekt. Ein Pilot ohne Pilotenschein, dafür mit umso mehr Erfindergeist. Dass er die Hausherrin zwinkernd Lady L. nannte, wirkte im engen Korsett von Thornwood mit all seinen Regeln und Etiketten fast schon rebellisch.

»Und das mit der rituellen Beschwörung übernimmt dann vermutlich ein Sprachassistent«, sagte Orla. 

Der Warlock runzelte die Stirn und tat empört. »Da können wir unsere Geheimrezepte ja gleich bei Ebay reinstellen oder dem Pentagon persönlich vorbeibringen. Nein, das machen wir noch alles selbst. Wobei uns das mit der Assistentin auf eine Idee bringt.« Er musterte sie von oben bis unten. »Du hast doch sicher noch etwas Zeit.«

»Ich weiß nicht.« Unschlüssig sah Orla auf ihre Uhr. »Ich müsste eigentlich längst wieder in meinem Zimmer sein.«

»Ach, papperlapapp. Für Wissenschaft und Forschung gelten keine Hausregeln.« Er drückte ihr einen Zettel und einen Stift in die Hand. »Wir haben deinem kleinen Freund geholfen, jetzt kannst du uns helfen. Du musst einfach nur beobachten und nun ja, …« Er wedelte mit der Hand in der Luft. »… eingreifen, wenn du das Gefühl hast, dass etwas nicht stimmt. Was, wenn wir ehrlich sind, bei dieser Dosis ziemlich gewiss scheint.« Energisch packte er sie bei den Schultern und führte sie zu einem Stuhl. Und auch wenn Orla bei dem Gedanken an einen zweiten Tanz auf der Klinge des Sensenmannes leichtes Herzklopfen bekam, ließ sie es widerstandslos geschehen. Abenteuer wie dieses würde sie in der Ödnis ihres Zimmers vergebens suchen. Die Nacht war noch jung und Schlaf war etwas für satte Menschen.


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