6 Thornwood

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Der erste Blick in das spärlich eingerichtete Zimmer verriet, dass Orla ihr neues Zuhause mit jemandem teilen würde. Sie stellte ihren Koffer neben das Bett, das noch nicht bezogen war und sah sich in Ruhe um. Mit einer Mitbewohnerin im Nacken ließ es sich nicht so ungestört herumschnüffeln wie gehofft, doch verglichen mit dem Schlafsaal bei den „Kindern der Sonne“, waren dies geradezu paradiesische Zustände. 

Es gab sogar ein eigenes Badezimmer. Auch das war ihr bei ihrem letzten Einsatz nicht vergönnt gewesen. Orla nahm die Hausmädchen-Uniform, die auf einem Bügel am Schrank hing, und zog sich ins Bad zurück. Der Pfützenmatsch war inzwischen getrocknet, dennoch tat es gut, die dreckigen Klamotten auszuziehen und in etwas Frisches zu schlüpfen.

Nachdem sie die Uniform übergezogen hatte, betrachtete sie sich im Spiegel. Mit dem strengen Kragen und den gekräuselten Bündchen an den Handgelenken wirkte das Kleid bieder und aus der Zeit gefallen – ein schwarzer Kartoffelsack mit abgesetzter Spitze. Dennoch freute Orla sich über das modische Verbrechen. Dass sie mit diesem Aufzug, den alle Dienstmädchen trugen, keinerlei Blicke auf sich ziehen würde, kam ihr sehr entgegen. Außerdem besaß die Uniform tiefe Taschen, in denen sich APA-Tools genauso gut verstecken ließen wie mögliche Beweismittel. 

Zufrieden knöpfte sie den Kragen bis oben zu und kehrte ins Zimmer zurück. Solange sie allein war, konnte sie die Zeit nutzen, sich ein genaueres Bild ihrer Mitbewohnerin zu machen. 

Orlas Aufmerksamkeit blieb als erstes an den bunten Blumentöpfen hängen, die sich auf der Fensterbank aneinanderreihten. Jeder einzelne schien liebevoll von Hand gestaltet. Auch die Wand über dem Bett gab Orla einen ersten Eindruck vom farbenfrohen Gemüt ihrer Mitbewohnerin, denn sie war mit zahlreichen Stickereien verziert.

Während Orla herantrat, um die Motive näher zu betrachten, wanderten ihre Gedanken zurück zu ihrer Nachbarin aus Kindheitstagen. In das Wohnzimmer, das ganz ähnlich ausgesehen hatte. Kissen, Decken, Lampenschirme. Selbst die Vorhänge von Mrs. Pattinson waren bestickt gewesen – als wollte sie allem eine persönliche Signatur geben.

Die ältere Dame hatte sie hin und wieder zu Tee und Kuchen eingeladen – in einer Zeit, in der Orla ihr eigenes Heim fremd geworden war. Anfangs war sie dem Wunsch nach Gesellschaft nur aus Mitleid gefolgt, denn niemand sonst schien sich für die kinderlose Witwe zu interessieren. Später war ihr klar geworden, dass ihre Nachbarin nicht nur ihr einsames Ich in ein zeitweises Wir verwandeln wollte, sondern auch versuchte, Orla aus ihrem nachtfarbenen Kokon zu befreien. Nicht, wie andere es getan hätten – durch Reden, nur um des Redens willen. Sondern mit derselben Behutsamkeit und Ruhe, mit der sie auch ihre Blumenmuster stickte.

Die meiste Zeit hatten sie mit Schweigen verbracht. Ironischerweise hatte Mrs. Patterson ihr damit genau das geschenkt, was sie damals am dringendsten gebraucht, aber nie so recht bekommen hatte: den Raum, einfach zu sein. Verstanden zu werden, ohne sich erklären zu müssen. Niemand, der Fragen stellte, deren Antworten sie selbst vergeblich suchte. Niemand, der sie mit Worten malträtierte, um das eigene Unbehagen zu übertönen. 

Einfach nur sein. 

Die Stille dort war eine andere als die Stille, die ihr Elternhaus hatte zufrieren lassen. Weil ihr Vater sich geweigert hatte, mehr als nur körperlich anwesend zu sein, weil die Nähe zu ihm sie eher erdrückte, als dass sie tröstete, hatte sich das Schweigen in allen Ritzen ihres Zuhauses festgesetzt wie Eiskristalle.

Bei Mrs. Patterson hatte Orla jedoch das Gefühl, sich an der Stille wärmen zu können. Dieselben Gedanken, dieselben Ängste, die sie damals geplagt hatten, waren dort weniger bedrohlich, weil sie wusste, dass jemand da war, der ihre Hand hielt, wenn sie darum bat. Der zuhörte, auch wenn sie gar nichts sagte. 

Und es hatte das handgestickte Blumenparadies um sie herum gegeben. Sobald sie fürchte, sich aufzulösen, war sie mit den Fingern über die Mohnblüten gefahren, die die Armlehne ihres Sessels geziert hatten oder mit den Augen eingetaucht in die purpurne Welle aus Petunien an der Wand und erst wieder aufgetaucht, wenn das Atmen ihr leichter gefallen war. 

Seitdem flackerte es wohlig warm in Orlas Herz, wenn sie irgendwo Stickereien sah. Doch diese hier waren anders. Etwas, dass sich erst auf den zweiten Blick zeigte.

Inmitten der Blumenpracht fanden sich immer wieder seltsam morbide Symbole. Orla entdeckte zwischen den Blüten eine Uhr, deren Zeiger wie Knochen aussahen, Schmetterlinge mit zerfetzten Flügeln, einen brennenden Baum, der Schlüssel an seinen Zweigen trug und einen dreiköpfigen Vogel im Kampf mit einer Schlange. Es schien fast so, als erzählte jeder Rahmen eine Geschichte, die nur Eingeweihte verstanden.

Gerade als Orla sich einen goldenen Hirschkäfer mit Totenkopfschädel näher ansehen wollte, ging die Tür auf und eine junge Frau trat herein. 

»Du musst meine neue Mitbewohnerin sein«, sagte sie und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Nelly. Eigentlich Nélida. Aber alle nennen mich Nelly. Oder Nell. Wie du magst.« 

Orla fielen sofort ihre großen Rehaugen auf. Mit den leicht gewellten, nach hinten gesteckten Haaren und dem ausdrucksstarken Mund sah sie aus wie eine dieser klassischen Schönheiten aus den Stummfilmen.

»Orla … nna«, murmelte Orla – überwältigt von so viel guter Laune.

»Was für ein schöner Name.« 

»Findest du?« Orla runzelte die Stirn. Dass dies keine normale Reaktion auf ein Kompliment war, merkte sie an dem irritierten Lächeln ihres Gegenübers. »Freut mich, dich kennenzulernen«, schob sie deshalb schnell nach.

Mit hüpfendem Gang lief ihre neue Mitbewohnerin zu ihrem Bett und setzte sich auf die Kante. Ihre Hände verschwanden unter ihren Oberschenkeln, als sie sich erwartungsvoll nach vorne lehnte.

»Dein erstes Mal?« Aus Nell strahlte die Neugier eines kleinen Kindes.

»Erstes Mal?«

»Na, du weißt schon.« Sie hob die Augenbrauen und nickte Richtung Zimmertür. 

Orla folgte ihrem Nicken, doch sie verstand noch immer nicht.

»Unter diesen besonderen Umständen … Bei dieser Art von Herrschaften ….«

»Du meinst … Dämonen?«, rief Orla amüsiert, doch Nell schaute, als hätte sie einen tödlichen Fluch ausgesprochen. 

Sie beugte sich zu ihr vor und flüsterte: »Royals. Ich meinte Royals.« 

»Ach, so«, antwortete Orla ebenfalls im Flüsterton, ohne zu wissen, warum sie sich von Nells verschwörerischem Gestus anstecken ließ. »Nein, das kenne ich schon. Mein alter Arbeitgeber war auch einer. Lord Grimshaw. Drüben in Oregon.«

»Du kommst von der Westküste?« Nell hatte wieder zu ihrer normalen Stimme zurückgefunden. »Und was führt dich hierher … in den Osten?«

»Ich brauchte einen Tapetenwechsel. Nach dem Tod des alten Zausels gab es nichts mehr, was mich dort hielt.«

»Das verstehe ich«, sagte Nell mit Blick Richtung Fenster und ein wehmütiger Schatten huschte über ihr Gesicht. »Ich wüsste auch nicht, wo ich hinsollte, wenn es das hier nicht mehr gäbe.«

»Bist du schon lange im Dienst der Kingsleys?«

»Nicht wirklich.« Nell presste die Lippen aufeinander und schwieg einen Moment. »Aber das hier ist das Einzige, das einer Familie gleichkommt.« Bevor Orla etwas erwidern konnte, hatte Nell ihre Schürze glatt gestrichen und war aufgesprungen. »Hast du dich schon umsehen können? Soll ich dir die anderen Räume zeigen?« Der abrupte Stimmungswechsel wirkte etwas befremdlich. Als hätte jemand per Fernbedienung von Melodrama auf Komödie umgeschaltet.

»Ich wollte eigentlich auspacken.« Orla blickte zu dem eingerahmten Familienfoto auf Nells Nachttisch und wieder zurück zu ihrer Mitbewohnerin. »Aber das kann ich auch später machen.«

Dass Nell ebenfalls eine Waise zu sein schien, war ein interessanter Zufall. Und nach allem, was sie über die Kingsleys wusste, ein allzu glücklicher, um ihn ausschließlich als das zu betrachten. Was, wenn ein System dahinter steckte, das alle Angestellten betraf? Die Vorteile für die Kingsleys lagen auf der Hand. Wer keine Familie hatte, der würde im Zweifel auch von niemandem vermisst gemeldet werden, wenn er innerhalb dieser Mauern einfach verschwand. 

Orla speicherte die weitere Recherche als To-do für später ab. Denn obwohl sie nicht hergekommen war, um Freunde zu finden, spürte sie seit dem Augenblick, in dem Nell sie zum ersten Mal angelächelt hatte, eine Verbindung, die sich wohl am besten als die Zuneigung einer großen Schwester beschreiben ließ. Vielleicht würde sie sich ihr gegenüber irgendwann sogar öffnen und ihre eigene Familiengeschichte erzählen. Als Verbündete. Um dem Gefühl, allein auf der Welt zu sein, seine Bedrohlichkeit zu nehmen. 

Sie schob ihren Koffer unter das Bett, bevor sie ihrer Mitbewohnerin aus dem Zimmer folgte. Ihre Mission mochte eine andere sein – ihr Gefühl riet ihr dennoch, Nélida nicht aus den Augen zu lassen.