Lucinda verzog das Gesicht, als sie den Aschehaufen auf dem Teppich bemerkte. Seufzend hob sie den Saum ihres Rockes, bevor sie sich ihren Weg an den Überresten vorbei suchte. »Kümmerst du dich darum oder soll ich jemanden kommen lassen?«
»Er hat es schon wieder getan«, murmelte Cyrus, ohne sie anzusehen.
»Wer?« Nur widerwillig ließ Lucinda sich auf einem der kubistischen Lederstühle nieder, die für all die Bittsteller vorgesehen war, die ihren Sohn den lieben langen Tag behelligten. So unbequem wie sie aussahen, waren sie auch. Der Designer musste sich seine Inspiration von mittelalterlichen Folterstühlen geholt haben. Wie kam man sonst auf die Idee, die Winkel der Rückenlehnen derart unnatürlich zu krümmen?
»Barnabas – wer sonst«, sagte Cyrus und reichte ihr ein zerknittertes Stück Papier. »Erst bestiehlt er mich und dann reibt er es mir auch noch dreist unter die Nase.«
Lucinda las den Text, verstand die Worte aber nicht. »Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal?« Sie gab den Zettel zurück. »Was soll das heißen?«
»Barnabas hat mitbekommen, dass ich auf der Suche nach einem Konorith bin. Seit Monaten war ich an der Sache dran. Ich habe Leute in den sechsten Kreis geschickt, die sich umhören sollten. Wir haben das Suchgebiet eingegrenzt und es war nur eine Frage der Zeit, bis das Artefakt mir gehören würde. Ich hatte meine Männer bereits vor Ort, … zumindest dachte ich das.«
»Aber?«, fragte Lucinda und gab sich alle Mühe, interessiert zu klingen, doch der süßlich-sengende Geruch in der Luft drängelte sich penetrant dazwischen.
»Er war schneller.« Cyrus blickte auf den Aschehaufen zu ihren Füßen. »Und offenbar hatte er Hilfe aus meinen eigenen Reihen.« Sein Gesicht verfinsterte sich, während er die Bruchstücke auf dem Schreibtisch mit dem Finger zusammenschob. »Er hat sich die nötigen Informationen erkauft und meinen Leuten eine Kopie untergeschoben.«
Der unangenehme Geruch trieb Lucinda aus dem Sessel Richtung Fenster. Bis dahin waren es nur ein paar Schritte, doch von der rettenden Frischluft trennte sie ein störrischer Holzrahmen, dem die Witterung der letzten Jahrhunderte stark zugesetzt hatte. Sie brauchte einige Anläufe, ehe er nachgab – knarzend und quietschend, als würde er sich über die rabiate Behandlung beschweren. »Wirst du dir das Artefakt zurückholen?«, fragte sie in die Kälte hinaus und nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie sich ihm wieder zuwendete.
»Ach, das blöde Ding ist mir doch egal«, sagte Cyrus. »Es hätte gut in meine Sammlung gepasst – mehr nicht. Nein, ich gönne Barnabas diesen Triumph einfach nicht. Er hat sich den Konorith doch nur geholt, weil er wusste, dass ich ihn haben will. Er will mich provozieren.«
»Und sein Plan scheint aufzugehen«, sagte Lucinda und blickte ihn tadelnd an. Dass diese Banalität ihn so ärgerte, zeigte ihr, dass die Aufnahme in den Hohen Rat eine wacklige Angelegenheit war. Sie würde so manche Falte aus seinem Charakter bügeln müssen, damit er für die Bürde eines solchen Amtes gerüstet war. Wenn er es nicht schaffte, sich im Umgang mit unbequemen Zeitgenossen ein dickeres Fell zuzulegen, musste er zumindest in der Lage sein, anderen die Gelassenheit vorzuspielen.
»Hältst du es für eine gute Idee, ihm Garvey auf den Hals zu hetzen?«, fragte Lucinda.
Doch Cyrus reagierte nicht. Er hatte die Hände wie zum Gebet gefaltet und stützte sein Kinn auf die Fingerspitzen. Sein Blick ruhte auf den zerbröckelten Resten seiner Ambitionen.
»Was auch immer du vorhast, lass es!«, sagte Lucinda eindringlich. »Pfeif deinen Kampfhund zurück. Wir finden eine elegantere Lösung.«
»Garvey?« Cyrus winkte ab. »Der hat einen anderen Auftrag. Ich hab ihn zu Tiphon geschickt.«
»In die Minen? Was will er denn da?«
»Die zwei Hohlköpfe von gerade eben gegen etwas Nützliches eintauschen. Ich hab keine Verwendung mehr für sie.«
»Und was unternimmst du wegen Barnabas?«
»Weiß ich noch nicht.« Die Mischung aus Wut und Entschlossenheit in seinem Blick erinnerte Lucinda an seinen Vater – ruchlos, getrieben und zu allem bereit. Nur die Sorgenfalte auf seiner Stirn wollte nicht so recht passen. Solche Momente der Ratlosigkeit hatte sie bei Aamon nie erlebt.
»Soll ich mal mit unserem speziellen Freund reden?«, fragte sie.
»Das fehlt mir gerade noch.« Verärgert lachte Cyrus auf und hielt die Hände in die Luft. »Sieh her, oh Welt! Wie meine Mutter das für mich regelt.«
»Dafür ist Familie doch da.«
»Ist dir nicht klar, wie das aussieht? Ich wäre das Gespött der gesamten Dämonenwelt. Von hier bis Caligor. Der Schatten meines Vaters ist schon groß genug. Du musst mir nicht auch noch das bisschen Licht nehmen, das ich mir mühsam erarbeitet habe.«
»Von wem hast du bloß diese theatralische Ader?«
Cyrus wollte etwas erwidern, doch er schloss den Mund wieder. Für einen Moment verkrampfte sich seine Hand wie in Zeitlupe zu einer Faust – als wolle er alles Gesagte damit zerquetschen. »Lass mich einfach machen. Ich werde es Barnabas schon heimzuzahlen – auf meine Art.« Er nahm den Mülleimer zur Hand und schob die Bruchstücke hinein. »Ich werde ihn da treffen, wo es ihn am meisten schmerzt.«
»Du denkst aber schon daran, dass er als Ratsmitglied auf dem Frühlingsball sein wird?«
»Ja, Mutter, … natürlich«, murmelte er und kurz glaubte Lucinda, seinen Kiefer knacken zu hören.
»Hör zu, ich mag Barnabas genauso wenig wie du, doch es wäre töricht, sich auf diese albernen Sperenzchen einzulassen. Als alter Weggefährte deines Vaters genießt er noch immer große Macht. Eine öffentliche Fehde würde das Gleichgewicht im Hohen Rat empfindlich stören.«
»Deshalb muss ich es auch so anstellen, dass man mir nichts nachweisen kann.«
»Cyrus, ich bitte dich. Was auch immer da zwischen dir und Barnabas brodelt. Lass es ruhen. Wenigstens bis zum Ball.«
»Wenn ich nur daran denke, mit ihm in einem Raum sein zu müssen«, murmelte Cyrus, während er seinen Laptop zur Hand nahm.
»Als zukünftiges Ratsmitglied solltest du dich an diesen Gedanken gewöhnen.«
»Nicht, wenn ich ihn vorher zu Fall bringe.« Seine Finger galoppierten über die Tasten. »Es muss doch eine Leiche in seinem Keller geben, die ich gegen ihn verwenden kann.«
»Das haben schon ganz andere versucht«, sagte Lucinda. »Mit mäßigem Erfolg.«
»Ich bin nicht wie die.« Cyrus sah kurz auf. »Aber danke für dein Vertrauen.«
»Ich kenne Barnabas. Ich weiß, wie er tickt. Wenn du gegen ihn antrittst, brauchst du einen langen Atem.«
»Ich soll also einfach Füße still halten?«
»Vorerst«, sagte Lucinda und hob beschwichtigend die Hände. »Wir wiegen ihn in Sicherheit. Früher oder später wird er einen Fehler machen und dann schlagen wir zu.«
»Ich weiß nicht, ob ich so lange warten kann. Sein Benehmen schreit förmlich nach einer Tracht …«
»Erinnere dich daran, was dein Vater immer gesagt hat. Unsere zwei mächtigsten Waffen sind Weitsicht und …?
Das Klacken der Tastatur verstummte. Doch eine Antwort blieb aus.
»Geduld, mein Lieber. Weitsicht und Geduld. Dein Vater hat das stets beherzigt. In allem, was er tat.«
»Warum lautet dein Rat eigentlich immer, dass ich mehr wie Vater sein sollte?« Unvermittelt klappte Cyrus den Laptop zu.
»Du sollst gar nichts. Du darfst natürlich selbst entscheiden, was du tust und was du lässt. Aber ich wäre nicht deine Mutter, wenn ich dich nicht vor Fehlern bewahren wollen würde.«
»Was war denn sein Fehler?«
Ein kühler Luftzug drang durch das Fenster an Lucindas Ohr. »Was meinst du?« Schützend legte sie ihre Hand an den Hals und fuhr mit den Finger über das Ohrläppchen.
»Ich meine Vater. Er war einer der mächtigsten Dämonen Pandaemonias. Niemand hätte es gewagt, sich mit ihm anzulegen. Was ist schiefgelaufen? Was hat er falsch gemacht?«
Es dauerte eine Weile, bis Lucinda das richtige Wort fand. »Hochmut?« Die frische Luft, die ihr eben noch so willkommen gewesen war, kroch ihr nun aufdringlich in den Nacken. »Aamon glaubte unantastbar zu sein. Dem war wohl nicht so.«
»Denkst du, Barnabas hat was mit seinem Verschwinden zu tun?«
»Gut möglich.« Das fröstelnde Gefühl wanderte vom Hals bis in ihre Fingerspitzen. »Ich glaube es eigentlich nicht. Aber was weiß ich schon.«
Mit einem beherzten Ruck schloss Lucinda das Fenster. Diesmal zeigte es nur wenig Gegenwehr.
»Fehlt er dir?«, hörte sie Cyrus fragen.
Sie drehte sich zu ihm und lächelte wehmütig. »Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke.«
Für eine Weile schwiegen sie – jeder in seinen eigenen Erinnerungen verfangen.
Lucinda fand als Erste zurück in die Gegenwart. »Umso wichtiger ist es, dass wir den Rest der Familie zusammen halten.« Nun war der perfekte Zeitpunkt, den eigentlichen Grund ihres Besuches anzusprechen.
»Wenn du jetzt wieder mit Samael anfängst …«
»Es geht um Kilian.« Mit beiden Händen umklammerte Lucinda die Lehne des klobigen Stuhls, auf dem sie zuvor gesessen hatte.
»Was ist mit ihm?«
»Man hat ihn heute Morgen tot aufgefunden.« Zu Lucindas Überraschung erzielte die Nachricht nicht die erhoffte Reaktion. Desinteressiert tippte Cyrus etwas in sein Handy, als hätte sie ihm gerade verkündet, dass die Regenrinne kaputt war.
Diverse Streitigkeiten, deren Ursprung so weit zurücklag, dass er in Vergessenheit geraten war, hatten im Laufe der Zeit zu einem Bruch zwischen den Kingsleys und Kilian geführt. Dass Cyrus seinem Display mehr Aufmerksamkeit schenkte als dem Tod eines Familienmitgliedes, hatte sie dennoch nicht erwartet.
»Er soll völlig entstellt gewesen sein«, schob sie nach. »Sie schließen Folter nicht aus.«
»Und was hat das mit uns zu tun?«, fragte Cyrus, ohne aufzublicken.
»Ich weiß nicht. Vielleicht nichts, vielleicht alles. Kilian war schließlich ein Vetter deines Vaters.«
»Mit dem wir seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr hatten und der seine Nase ständig in Dinge steckte, die ihn nichts angingen. Vermutlich hat er sich einfach mit den falschen Leuten angelegt.«
»Was, wenn er Samael da mit reingezogen hat? Die beiden haben sich früher gut verstanden und so wankelmütig wie dein Bruder im Moment ist …«
»Keine Sorge, Mutter.« Cyrus sah offenbar noch immer keinen Anlass, sich von seinem Handy zu lösen und auf Augenhöhe mit ihr zu reden. »Deinem Goldjungen geht es gut.«
»Sagen das deine Spione?«
»Wenn er sich mit Kilian eingelassen hätte, wüsste ich das.«
Unruhig lief Lucinda ein paar Schritte auf und ab, bis ihr der Aschehaufen auf dem Teppich in die Quere kam und sie abrupt stoppte. Ihre Sorge wollte sich nur langsam legen. War alles nur ein Zufall, wie Cyrus behauptete? Oder hatte es jemand gezielt auf Kilian abgesehen, weil er zur Familie gehörte? Ihren Informationen nach war er nicht versehentlich zu Tode gekommen. Was, wenn der Mörder sich gewaltsam Informationen über die Kingsleys beschafft hatte – uralte Familiengeheimnisse, die ihre Achillesferse freilegten.
Sie verschränkte die Arme, während sie nachdachte. Aamon hätte den Mord an seinem Vetter nicht so einfach als das Pech abgetan. Er wäre den Dingen auf den Grund gegangen.
»Vielleicht hast du Recht«, sagte sie. »Vetter Kilian war schon verloren, bevor seine Zeit abgelaufen war. Ich sehe vermutlich nur Gespenster. «
Lucinda hatte keine Lust, länger um Hilfe zu betteln. Wenn Cyrus ihre Sorge für übertrieben hielt, würde sie auf eigene Faust Beweise suchen, die ihn vom Gegenteil überzeugten.
»Ich kann mich gerne ein wenig umhören, wenn du dann ruhiger schläfst«, sagte Cyrus, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Falls du es tatsächlich schaffen solltest, meinen Bruder für längere Zeit hier auf Thornwood zu halten, hätte ich wieder ein paar Kapazitäten frei.«
Gerade als Lucinda ihm ihren Dank aussprechen wollte, hielt er sein Telefon ans Ohr und blickte demonstrativ zur Tür. Dass sich sein überraschendes Hilfsangebot als Rausschmeißer entpuppt hatte, ärgerte sie nur kurz. Je mehr Augen und Ohren zur Verfügung standen, umso schneller würden sie der Wahrheit auf die Spur kommen.
Beim Hinausgehen vergaß sie den Haufen Asche auf dem Boden und trat direkt hinein. Doch der genervte Blick, den sie ihrem Sohn zuwarf, traf nur seinen Rücken und verpuffte in der Bedeutungslosigkeit. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als tief durchzuatmen und bis drei zu zählen, bevor sie ihren Weg mit erhobenem Kinn fortsetzte.
»Der Teppich war übrigens ein Geschenk des spanischen Königshauses«, rief sie Cyrus über die Schulter hinweg zu, wohlwissend, dass es ihn nicht interessierte.
Die fehlende Wertschätzung für die schönen Dinge waren erblich. Das konnte sie ihm nicht zum Vorwurf machen. Solange Aamons Ruchlosigkeit seine DNA dominierte, lagen die Prioritäten eben woanders.